Ein Text der AG Gesellschaftskritik des sozialen Zentrums in der Reiche114
Am 20. Mai besetzten Aktivist*innen in einer berlinweit koordinierten Aktion neun, teilweise seit Jahren leerstehende Wohnungen und Häuser. Bereits im Vorfeld hatte es durch das Bündnis #besetzen eine Ankündigung dazu gegeben:
„Wir werden besetzen. Hiermit informieren wir darüber, dass wir als selbstbestimmte Berliner*innen die Unvernunft von Leerstand in einer Stadt mit Wohnungsnot, Armut und Verdrängung nicht länger hinnehmen und uns in Zukunft Häuser nehmen werden. Wir fordern alle auf, ihre insgeheimen Träume vom profitfreien Wohnen wahr werden zu lassen. Wir fordern dazu auf, sich mit den Aktiven und den Nachbar*innen zu solidarisieren und die Logik von Miete und Wohneigentum abzulehnen.Wir haben nichts zu verlieren, als unsere nächste Mieterhöhung“
Binnen kürzester Zeit verbreitete sich die Nachricht der größten Besetzungsaktion seit Jahren in den Kiezen und über die sozialen Medien.
„Stadt besetzen statt besitzen“ steht auf einem Transparent im sozialen Zentrum in der Reiche114 (Foto: left report)
Die Polizei war angesichts der über die ganze Stadt verteilten Aktionen überfordert und musste die Aktivist*innen gewähren lassen. Vor den Gebäuden wurden Kundgebungen angemeldet, an denen sich hunderte Menschen beteiligten und – entsprechend der zuvor geäußerten Hoffnung des Bündnisses – mit den Aktiven und neuen Nachbar*innen solidarisierten. Indem die Besetzungen in wenigen Stunden derart hohe Wellen schlugen, zwangen die Aktivist*innen die rot-rot-grüne Regierung Berlins, deren Parteien allesamt den Kampf gegen die profitorientierte Wohnungspolitik zum zentralen Thema ihres Wahlkampfs gemacht hatten, sich zu den Besetzungen zu positionieren und die Entscheidung über mögliche Räumungen zu einer politischen zu machen. Die Bundestagsabgeordnete Canan Bayram der Grünen ließ verkünden: „Der Senat hat jetzt die Gelegenheit, die Frage zu beantworten, wem die Stadt gehört.“
Binnen kürzester Zeit hatten die Besetzer*innen es erreicht den seit Jahren vorherrschenden Miet-Diskurs aus verschleiernden Phrasen und abstrakten (und damit leeren) Forderungen zu dechiffrieren und die Konfliktlinien klar abzustecken. Die zentrale Frage des Wahlkampfs der Partei Die Linke „Wem gehört die Stadt?“, die während eines gemütlichen Spaziergangs mit vielen lustigen Plakaten von 25.000 Menschen vom Potsdamer Platz nach Schöneberg im luftleeren Raum schwebte, musste von der Politik am Nachmittag des ‚Karnevals der Besetzungen‘ konkret beantwortet werden. Indem die Aktivist*innen durch die Aneignung der seit Jahren leerstehenden Häuser Tatsachen schufen, konnte der Widerspruch aus der Logik des Kapitals und einer Logik, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert nicht mehr durch abstrakte Phrasen verwässert werden.
Das Problem des Eigentums, das sich durch die gesellschaftlichen Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft sedimentiert hat und zu einer ‚zweiten Natur‘ (Marx) geworden ist, verliert durch Hausbesetzungen den Schein des Unumstößlichen. (Entsprechend heftig fallen die Kommentare von rechts-konservativen Politiker*innen in solchen Fällen aus.) Besetzungen erinnern daran, dass das Privateigentum keineswegs eine naturgegebene, transhistorische – und noch viel weniger eine vernünftige – Erscheinung der Menschheitsgeschichte darstellt, sondern durch die gewaltsame Enteignung der Menschen von ihren Subsistenzmitteln in der Entstehungsgeschichte des Kapitalismus ab dem 15. Jahrhundert in die Welt kam. Über diese „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ schreibt Karl Marx: „Der Prozess, der das Kapitalverhältnis schafft, kann also nichts andres sein als der Scheidungsprozess des Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen, ein Prozess der einerseits die gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsmittel in Kapital verwandelt, andrerseits die unmittelbaren Produzenten in Lohnarbeiter. Die sog. ursprüngliche Akkumulation ist also nichts als der historische Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel.“ Die Verwandlung von Wohnraum in Ware und später in Spekulationsobjekte setzt die historische Enteignung der Menschen von ebendiesem voraus. Durch diesen gewaltsamen Scheidungsprozess konnte sich die Logik des Kapitals entwickeln und durch die „Privatisierung der Welt“ jegliche Beziehungen der Menschen zu ihrer Umwelt den Zwängen von Kaufen und Verkaufen unterwerfen. Das private Eigentum hat dabei immer den Ausschluss von diesem Reichtum (also die Enteignung in Permanenz) zur Kehrseite. Der „Schutz des Privateigentums“ impliziert daher auch den Schutz einer leerstehenden Wohnung vor Obdachlosen oder den Schutz von Müllcontainern diverser Supermärkte vor Menschen, die noch genießbares Essen darin suchen. Dementsprechend findet ein Bedürfnis – sei es das zu wohnen oder das zu essen – nur Erfüllung, wenn der*die Einzelne dafür bezahlen kann. So ist es in Berlin möglich einer ganzen Stadt den Zugang zu einem Fluss zu nehmen, indem die Bürogebäude großer Konzerne an dessen Ufer errichtet werden, jedoch keineswegs möglich auf den Bänken der U-Bahnhöfe zu übernachten, wenn sich im Winter kein anderer Schlafplatz finden lässt. Es ist möglich dort Start-Ups zu gründen, wo Kiezläden weichen müssen.
Die Umgestaltung Berlins nach den Interessen des Kapitals verlief nach dem Fall der Mauer äußerst rasant. Indem der größtenteils rot-rote Senat seit den 90er Jahren fast die Hälfte der städtischen Gesellschaften an private Immobilienkonzerne verkaufte, wurden über 200.000 Wohnungen der globalen Finanzökonomie einverleibt, die in den letzten Jahrzehnten, infolge einer stockenden Akkumulation in anderen Marktsegmenten, Immobilien als Spekulationsobjekte für sich entdeckte. Aus ehemaligen Sozialwohnungen wurden dadurch Anlagemöglichkeiten für das globale Kapital, das gleichgültig gegen den Gebrauchswert – für andere ein Dach über dem Kopf zu sein – einen möglichst hohen Profit mit diesen erwirtschaften möchte. Das von allen Poliker*innen von AfD bis Die Linke gegen den Karneval der Besetzungen ins Feld geführte Bekenntnis zum Schutz des Eigentums an seit Jahren leerstehenden Gebäuden einiger Immobilienkonzerne gegen die Besetzer*innen ist das Bekenntnis zu einer Welt des Kapitals, in der Profit immer über den Bedürfnissen der Menschen stehen wird.
Es steht das Recht auf Profit gegen das Recht auf ein gutes Leben, das durch Gewalt entschieden wird. Denn wie es diese Gewalt historisch brauchte, um das Privateigentum von wenigen Herrschenden durch die Enteignung der breiten Bevölkerung in die Welt zu setzen, so braucht es die Drohung der Gewaltanwendung, um den Fortbestand der kapitalistischen Vergesellschaftung und ihren möglichst reibungsfreien Ablauf zu sichern. In der kapitalistischen Binnengeschichte hat sich diese Gewalt von einer äußeren Bedrohung zu einer innerpsychischen Kontrollinstanz – dem berühmten cop in your head – gewandelt. Die systemische Gewalt ist dermaßen in die gesellschaftlichen Verhältnisse des Normalbetriebs sedimentiert, dass sie den Menschen kaum noch als solche erscheint. In der durch die Kulturindustrie sich permanent reproduzierenden Ideologie ist es daher keine Gewalt, sondern der bedauerliche Lauf der Dinge, Menschen ohne Obdach leben oder sie im Mittelmeer ertrinken zu lassen. Als Gewalt erscheint es im öffentlichen Bewusstsein erst, wenn sich Menschen diesem Unrecht widersetzen. „Krieg ist Frieden“, heißt es dazu von Orwells Big Brother.
Dann beginnt die Repression. Die in den gesellschaftlichen Verhältnissen fortwirkende Gewalt wird manifest, wenn sich die Menschen der kapitalistischen Logik – freiwillig oder gezwungenermaßen – widersetzen. Stets kann das Kapital auf physische Gewalt zurückgreifen, um den ökonomischen Frieden zu sichern. So wendet der deutsche Staat Millionen von Euro dafür auf, Menschen, die sich die Preise der BVG nicht leisten können mittels ‚Ersatzfreiheitsstrafen‘ in den Knast zu stecken, um die Logik des Marktes gegen die Ärmsten der Gesellschaft durchzusetzen. „Der Staat ist die Form der Organisation, welche sich die Bourgeois sowohl nach außen als nach innen hin zur gegenseitigen Garantie ihres Eigentums und ihrer Interessen notwendig geben.“ (Marx) Findet die staatliche Anwendung von Gewalt in der Regel fernab der öffentlichen Aufmerksamkeit statt, wurde sie durch die Aktion von #besetzen zum Politikum.
R2G musste sich entscheiden, ob sie die konkreten Konsequenzen aus ihren Wahlkampfforderungen zieht und das Bedürfnis auf Wohnraum – wenigstens im besonderen Fall – über die Logik des Kapitals, in diesem Fall: das Bedürfnis nach Räumen für ein gemeinsames, solidarisches Leben über die Spekulation durch Leerstand stellt. Und der Senat aus SPD, Grünen und Linkspartei tat dies kompromisslos und unzweideutig. Während die Besetzer*innen in der Bornsdorfer Straße (Borni) noch mit einzelnen Politiker*innen (mit der Garantie vorerst in dem Haus des landeseigenen [!] Wohnungsbauunternehmens ‚Stadt und Land GmbH‘ bleiben zu dürfen) verhandelten, bekam die Berliner Polizei von anderer Stelle grünes Licht für die Räumung. Allen Besetzer*innen und alle Unterstützer*innen, die sich für ein solidarisches Zusammenleben engagieren, wurde verdeutlicht, dass der cop in your head – egal unter welcher Regierung – jederzeit durch die behelmten Schlägertruppen der deutschen Polizei ersetzt werden kann. Hatten diese bereits im Vorfeld verbal Gewalt gegen die ausnahmslos friedlichen Aktivist*innen angekündigt, schlugen sie während der Räumung mehrere Personen ins Krankenhaus. Auch alle anderen Besetzungen wurden noch am selben Abend geräumt. Binnen weniger Minuten entpuppte sich alles, was die rot-rot-grüne Regierung im letzten Jahr zu den Bedürfnissen der Mieter*innen verlautbaren ließ als Schall und Rauch. Eindeutig hatten sie sich dazu bekannt, die Logik des Kapitals weiterhin – unter Anwendung brutaler Gewalt – gegen das Bedürfnis der Menschen nach Wohnraum durchzusetzen.
Der Versuch des linksliberalen Bürgertums die Aktion im Nachhinein als eine „Erinnerung“ oder „Mahnung“ an die Politik für sich zu vereinnahmen, stellt den Versuch dar, diese Konfliktlinien wieder zu verwässern und die Besetzungen ins falsche Licht zu rücken. In Wirklichkeit waren diese keineswegs als symbolische, sondern dauerhafte Besetzungen konzipiert und mit der Forderung „die Logik von Miete und Eigentum abzulehnen“ verknüpft. Die Besetzungen waren daher keine Erinnerung an bezahlbaren Wohnraum, sondern die Infragestellung des menschlichen Lebens in einer Stadt, in der die Menschen als arbeitende und konsumierende Monaden ihr Dasein fristen, während ihnen der öffentliche Raum genommen und entsprechend den Profitinteressen des Kapitals – durch Einkaufs-Malls, Autobahnen, ein Schloss oder Luxus-Hotels – verunstaltet wird.
„Jeder Aufstand, so örtlich begrenzt er sein mag, weist über sich selbst hinaus und erhält eine unmittelbar globale Dimension. In ihm erheben wir uns gemeinsam auf die Höhe der Zeit, der Epoche“, so schreibt das Unsichtbare Komitee, „die Epoche muss im Innersten jeder Situation und im Innersten jedes Einzelnen gesucht werden. Dort finden »wir« uns wieder, dort, wo sich die wahren Freunde aufhalten, in alle Himmelsrichtungen verstreut, aber auf dem gleichen Weg.“ Wer auf diesem Weg die Freund*innen sind haben sowohl die Besetzer*innen und ihre unzähligen Unterstützer*innen, als auch Die Linke, Die Grünen und die SPD an diesem Tag mehr als deutlich zum Ausdruck gebracht.